Verätzung
Unfall mit Gefahrstoff: Wie entwickelt sich eine Verätzung?
In Folge eines Chemieunfalls kommt es oft zu einem Kontakt zwischen einem Gefahrstoff und unserem Gewebe (Auge oder Haut)
Eine Verätzung ist eine teilweise oder vollständige Zerstörung von Molekülen, Zellen oder Struktur der Haut oder der Augen, die durch einen reizenden oder ätzenden Gefahrstoff verursacht wurde. Der Grad der Gewebeveränderung definiert den Grad der Verätzung.
Was ist eine Verätzung?
Eine Verätzung ist die Folge eines Kontakts zwischen dem biologischen Gewebe unseres Körpers bzw. Auges und einem reizenden bzw. ätzenden Gefahrstoff. Es ist die, durch den Gefahrstoff verursachte, äußerliche Verletzung an unserem Körper.
Die Verätzung wird durch die teilweise oder vollständige Zerstörung des Gewebes bestimmt.
Der Gefahrstoff reagiert mit der biochemischen Verbindung des Gewebes (einem Molekül, einer Zelle, einem Protein…). Diese Reaktion zerstört das biologische Gleichgewicht des Gewebes. Die Veränderung des Gewebes bewirkt die Verätzung, die makroskopisch beobachtet wurde. Je mehr das Gewebe zerstört ist, desto schwerer ist die Verätzung: die Schwere der Verätzung ist im Wesentlichen an die Art des Gefahrstoffs und die Beschaffenheit des betroffenen Gewebes und der betroffenen Oberfläche gebunden.
Die Haut, das Auge, der Verdauungstrakt oder die Atemwege sind in direktem Kontakt mit der Außenseite des Körpers. Dies sind also die ersten Angriffsflächen für Gefahrstoffe. Wir sprechen von Verätzungen bei Wunden, die durch den Kontakt des Gefahrstoffs mit diesem bestimmten Gewebe aufgetreten sind.
Zu der Verätzung können auch andere systematische Symptome auftreten.
Wenn der Gefahrstoff, der die Verätzung verursacht giftig oder schädlich ist, im Körper bis in die Organe oder ins Blut gelangt, kann er hier mit anderen biologischen Angriffsflächen interagieren.
Beispielsweise ist Benzol reizend für Haut und Augen, ist krebserregend und erbgutverändernd und kann auch in den DNA-Ketten die Zellteilung beeinträchtigen. Es kann zur Zerstörung der Zellen (Aplasie) oder Zellproliferation von blutbildendem Mark (Organ, welches die Vorläufer der Blutkörperchen produziert) führen. Dies kann Leukämie verursachen.
Welche Gefahrstoffe können eine Verätzung verursachen?
Gefahrstoffe, die eine Verätzung verursachen, werden je nach Schweregrad der Verätzungen, die sie hervorrufen können eingestuft: sie sind ätzend oder reizend.
Ein Gefahrstoff wird als ätzend oder reizend eingestuft, wenn er fähig ist, auf die biochemischen Verbindungen der Zellen und dem Gewebe der Haut, Augen, Atemwege oder Verdauungstrakt einzuwirken. Die CLP/GHS Vorschriften der Europäischen Agentur für chemische Stoffe enthalten folgende Definitionen für ätzende oder reizende Produkte (CLP Seite L 353/87):
– die Verätzung ist die Erzeugung irreversibler Schäden der Haut, was nach dem Aufbringen einer Substanz von bis zu 4 Stunden zur sichtbaren Nekrose führt -die Umkehrbarkeit der Hautschädigung sollte bei der Beurteilung der Reizung durch einen Stoff berücksichtigt werden.
- Ätzende Stoffe verursachen die Zerstörung des Gewebes mit denen sie in Kontakt kommen und führen zu schweren Verletzung.
- Ein reizendes Stoff verursacht eine Reizung, Rötung, eine Entzündung.
- Unter Umständen kann der gleiche Gefahrstoff, abhängig von der Konzentration und von der Umgebung in der er sich befindet, ätzend oder reizend sein.
Die Gefahr einer Chemikalie ist, im Rahmen der gesetzlichen Verpflichtungen der Europäischen Agentur für chemische Stoffe, vom Hersteller auf dem Etikett anzubringen.
Beispiel: Salzsäure, HCI (oft zum Entkalken verwendet).
Im Handel findet man Chlorwasserstoffsäure in Form einer Lösung in Wasser.
Gemäß den europäischen Richtlinien werden die Lösungen von Salzsäure in Wasser als ätzend eingestuft, wenn die HCI-Konzentration mehr als 25% beträgt und als reizend, wenn die HCI-Konzentration zwischen 10% und 25% liegt.
Konzentration der HCI-Lösung in Wasser | Klassifizierung | Etikettierung | verbundene Risiken |
>25% | ätzend |
H314: verursacht schwere Verätzungen der Haut und der Augen H335: kann die Atemwege reizen |
|
zwischen 10% et 25% | reizend |
H315: verursacht Hautreizungen H319: verursacht schwere Augenreizungen H335: kann die Atemwege reizen |
Wie entwickelt sich eine Verätzung?
Alles beginnt mit einer chemischen Reaktion zwischen zwei Molekülen. Auf mikroskopischer Ebene ist die Verätzung das Ergebnis einer chemischen Reaktion zwischen einer aggressiven chemischen Substanz und einer biologischen Komponente.
Diese Reaktion zerstört die biologische Komponente und damit das Gewebe. Dies ist die Verätzung.
Der Bildungsmechanismus einer Verätzung hängt von vielen Faktoren ab, der bedeutendste ist der, der hervorgerufenen Reaktion.
Abhängig von seiner Beschaffenheit, reagiert jeder Gefahrstoff mit einer anderen Verbindung des biologischen Gewebes wie folgt:
- Säure-Base-Reaktion: Austauschreaktion des Protons H+ zwischen einer Säure und einer Lauge
- Redoxreaktion: Elektronenaustausch zwischen einem Oxidationsmittel und einem Reduktionsmittel
- Chelatbildung oder Bildung eines Komplex aus zwei Molekülen
- Solvatation: Auflösen einer chemischen Substanz durch ein Lösungsmittel
- Beispiele:
- Säure-Base-Reaktion zwischen den OH– Ionen von Natron und der Esterbindung von Ölen
- Solvatation von Lipiden in Zellmembranen durch hydrophobe Lösungsmittel (Diesel, Toluol)
- Chelatbildung der Calciumionen Ca2+ mit F– Fluorid-Ionen (z. B. Flusssäure HF) in den Zellen
Es gibt genauso viele Reaktionen, durch die Verätzungen entstehen können, wie Produktpaare aggressive chemische Substanz / biologische Angriffsfläche.
Die Entstehungsphasen einer Verätzung
Der Bildungsmechanismus einer Verätzung kann in drei Phasen unterteilt werden:
- erst gibt es einen Kontakt zwischen dem Gefahrstoff und dem Gewebe
- dann gibt es das Eindringen des Gefahrstoffs in das Gewebe
- danach folgt die chemische Reaktion zwischen dem Gefahrstoff und dem Gewebe
Der Kontakt mit der Haut oder dem Auge ist hergestellt, sobald ein Gefahrstoff auf die Haut oder in das Auge gelangt. Im Verdauungstrakt (Mund, Speiseröhre, Magen…) findet der Kontakt statt, sobald ein Gefahrstoff verschluckt wird. Der Kontakt mit den Atemwegen findet statt, sobald ein Gefahrstoff eingeatmet wird.
Sobald der Gefahrstoff in Kontakt mit dem Gewebe kommt, kann er trotz der biologischen Barrieren in das Gewebe eindringen. Die Eindringgeschwindigkeit in das Gewebe wird durch die Besonderheit und das Potential des Gefahrstoffs bestimmt.
Beispiele:
- ein fester Gefahrstoff kann nicht so leicht in die Haut eindringen
- ein kleines chemisches Molekül dringt in der Regel schneller ein als ein großes
- ein Molekül dringt leichter ein wenn es lipophil ist
Der Gefahrstoff dringt so lange in das Gewebe ein, bis er einen biologischen Bestandteil erreicht auf den er einwirken kann. Die Eindringtiefe in das Gewebe hängt von der Beschaffenheit des Gefahrstoffs ab.
Der Gefahrstoff kann somit auf die biologische Angriffsfläche einwirken.
Sobald der Gefahrstoff den biologischen Bestandteil erreicht hat, findet die chemische Reaktion statt. Das biologische Gleichgewicht ist gestört, das Gewebe zerstört und die Verätzung entsteht.
Die Verätzung entsteht ausschließlich bei einer chemischen Reaktion, wenn der Gefahrstoff seine Angriffsfläche erreicht. Jeder chemische Spritzer enthält eine sehr große Anzahl an Molekülen, die auf Moleküle oder Zellen des menschlichen Körpers einwirken können. Die Verätzung schreitet fort, solange der Gefahrstoff in Kontakt mit dem Gewebe ist und noch nicht reagieren konnte.
Ein schnelles Eingreifen nach dem Kontakt kann das Ausmaß der Verätzung einschränken: die Not-Dekontamination ist hier von größter Bedeutung.
Faktoren, die eine Verätzung beeinflussen
Die Art, die Tiefe und der Schweregrad der Verätzung hängen von vielen Faktoren ab:
- die Eigenschaften des Gefahrtstoffes
- seine Konzentration
- die Kontaktzeit zwischen Gefahrstoff und Gewebe
- die Temperatur des Gefahrstoffs
Abhängig von ihrer Beschaffenheit wirken die Gefahrstoffe verschieden auf die biologischen Angriffsflächen. Jede Reaktion wird unterschiedliche mikroskopische Auswirkungen auf die Zellen haben und dies wird makroskopische Läsionen herbeiführen, die nicht die gleichen Eigenschaften haben.
Beispiel: eine Säure wird mit den Proteinen reagieren und deren Gerinnung verursachen, während eine Lauge die Zellen durch Verseifung der Fettsäuren der Zellmembran zersetzt und die Gewebeverflüssigung verursacht.
Die Beschaffenheit und insbesondere die Konzentration des Gefahrstoffs sind entscheidende Faktoren bei der Bildung der Verätzung. Die Konzentration des Gefahrstoffs bestimmt die Anzahl der aggressiven Moleküle in der Menge des Produkts. Je konzentrierter der Gefahrstoff ist, desto mehr aggressive Moleküle wird er enthalten. Ein stark konzentrierter Gefahrstoff verursacht schwerere Schäden.
Beispielsweise werden Salzsäurelösungen in Wasser als ätzend eingestuft, wenn die HCI-Konzentration über 25% liegt und als reizend, wenn die HCI-Konzentration zwischen 10% und 25% liegt.
Bestimmend ist die Kontaktdauer zwischen Gewebe und Gefahrstoff. Der Gefahrstoff, der sich auf der Haut oder im Auge befindet, wird in das Gewebe eindringen und allmählich einwirken. Je länger der Kontakt zwischen dem Gewebe und dem Gefahrstoff andauert, umso mehr kann der Gefahrstoff einwirken und umso schwerer ist die Verätzung.
Die Temperatur des Gefahrstoffs und der Druck mit dem er projiziert wird muss ebenfalls berücksichtigt werden. Dies hat Einfluss auf die Eindringgeschwindigkeit und die Wirkung. Ein warmer Gefahrstoff wirkt schneller als ein kalter, da er mehr Energie hat.
Verätzung oder Verbrennung?
Verätzung und Verbrennung sind sehr unterschiedlich. Die Entstehung ist anders: Verbrennungen entstehen nach einem Kontakt mit einer Wäremequelle, Verätzungen nach einem Kontakt mit einem Gefahrstoff.
Behandlung der Verätzung
Bei einer Verätzung sind weitere Behandlungen und ärztliche Betreuung erforderlich. Diese Behandlungen müssen auf die die spezifische Gefahr des Gefahrstoffs und den Schweregrad der Verätzung zugeschnitten sein.
Wenn ein Mensch Kontakt mit einem Gefahrstoff hatte, ist eine Spülung von absoluter Dringlichkeit.
Ist die Erste-Hilfe-Dekontamination beendet und war erfolgreich, schreitet die Verätzung nicht fort. Jetzt ist es möglich die entstandenen Schäden zu behandeln, um die Heilung zu erleichtern.
Ist der Gefahrstoff giftig, ist es nun möglich die Gefahr zu behandeln.
Die Nachbehandlung muss angepasst werden:
- sie muss speziell für den betroffenen Gefahrstoff sein
- sie muss angemessen für die entstandene Verätzung sein
Verätzungen werden in den meisten Fällen in Verbrennungszentren von Krankenhäusern behandelt. Die Behandlung ähnelt häufig, mit einigen Unterschieden, derer im Falle von thermischen Verbrennungen:
- die Vernarbung dauert bei Verätzungen länger
- Transplantationen halten schlechter auf Verätzungen
Warum soll man einen Chemikalienspritzer spülen?
Ätzende und reizende Stoffe reagieren mit den biologischen Verbindungen der Haut oder des Auges. Dies kann zu sehr schlimmen Schädigungen oder Verätzungen der Haut oder des Auges führen.
Im Falle eines Haut- oder Augenkontakts mit einem ätzenden oder reizenden Gefahrstoff ist es sehr wichtig die Reaktion auf das Gewebe einzugrenzen. Das Gefahrstoff reagiert so lange auf das Gewebe wie sie in Kontakt mit ihm ist und keine Maßnahme diese Aggressivität stoppt.
Um wirkungsvoll zu dekontaminieren, müssen die Kontaktdauer und die Reaktion des aggressiven Gefahrstoffs auf das Gewebe eingegrenzt werden. Hierzu muss man:
- den Gefahrstoff von der Oberfläche der Haut oder des Auges entfernen
- das Eindringen des Gefahrstoffs in das Innere des Gewebes stoppen und den bereits eingedrungenen Gefahrstoff entnehmen
- das ätzende oder reizende Potential des Gefahrstoffs senken, um die Bildung einer Verätzung zu vermeiden
Es muss also so schnell wie möglich gehandelt werden um den Gefahrstoff von seiner biologischen Angriffsfläche zu entfernen. Die Notfallbehandlung erfordert:
- entkleiden Sie die Person. Sollte die Kleidung von dem ätzenden oder reizenden Gefahrstoff durchnässt sein, kann dieser bei Hautkontakt noch weiter reagieren
- eine ausgiebige Spülung durchführen, die das mechanische Abspülen des Gefahrstoffs von der Körperoberfläche ermöglicht und ihn zu verdünnen um ihn weniger aggressiv zu machen
Schnelles und gründliches Spülen ermöglicht eine effektive Dekontamination des Gewebes nach einem chemischen Kontakt.
Welche sind die Vorteile und die Grenzen einer Spülung mit Wasser?
„Gründlich mit Wasser spülen“. Diese Empfehlung zur Dekontamination nach einem Gefahrstoffkontakt ist geschichtlich und immer noch weit verbreitet. Das Spülen mit Wasser nach einem Gefahrstoffkontakt hat Vor- aber auch Nachteile.
Wasser ist die erste Lösung zur Notdekontamination nach Gefahrstoffkontakt, die bekannt ist.
Das Spülen mit Wasser hat praktische Vorteile: die Verfügbarkeit und die Vielseitigkeit. Der Zugang zu Wasser ist in der Regel einfach und es ermöglicht eine Vielzahl an Chemikalien mit der gleichen Wirksamkeit zu spülen.
Die Wirkung von Wasser auf einen Gefahrstoff ist mechanisch: Wasser entfernt den Gefahrstoff von der Oberfläche der Haut oder des Auges. Dieser mechanische Effekt ist die Hauptwirkung der Spülung.
Darüber hinaus ist das Spülen mit einer großen Wassermenge ausreichend um die Chemikalie zu verdünnen. Je weniger konzentriert der Gefahrstoff ist, umso weniger aggressiv ist er für das biologische Gewebe.
Das Spülen mit Wasser hat jedoch eine begrenzte Wirkung und einige Nachteile.
Die Spülung mit Wasser begünstigt das Eindringen des Gefahrstoffs in das Gewebeinnere. Wasser hat, im Vergleich zur Haut und zum Auge, einen geringeren osmotischen Druck. Ein Teil des zur Spülung genutzten Wassers wird in das Innere des Gewebes eindringen und einen Teil des Gefahrstoffs mitnehmen. Der Gefahrstoff, der eingedrungen ist, wird auf das Gewebe reagieren und Schädigungen und Verätzungen verursachen. Dies nennt man „effet wash-in“. [1]
Das Spülen mit Wasser hat keine Wirkung auf den Gefahrstoff, der bereits in das Gewebe eingedrungen ist. Wasser kann den Gefahrstoff, der bereits in die Haut oder das Auge eingedrungen ist nicht entfernen. Die eingedrungene Menge des reizenden oder ätzenden Gefahrstoffs kann auf seine biologische Angriffsfläche wirken und Verätzungen verursachen. Somit hat der Gefahrstoff das physiologische Gleichgewicht zerstört, die Spülung mit Wasser kann nicht dazu beitragen zu einem normalen pH-Wert zurückzukehren. Eine Säure, die in die Haut eingedrungen ist wird den pH-Wert des kontaminierten Gewebes senken. Die Haut mit Wasser zu spülen ermöglicht keine Rückkehr zum normalen pH-Wert.
Wasser hat keine chemische Wirkung auf die Reaktivität des Gefahrstoffs. Die Gefahr eines Gefahrstoffs nimmt durch das Spülen mit Wasser nicht ab.
Um ein optimales Ergebnis zu erzielen ist die Interventionszeit für eine Spülung sehr kurz. In den Vereinigten Staaten empfiehlt die Norm des American National Standard Institute (ANSI) den Beginn einer Spülung innerhalb von 10 Sekunden nach dem Gefahrstoffkontakt mit dem Auge.
Um zusammenzufassen kann man sagen, dass eine Spülung mit Wasser:
- ein mechanisches Abspüleffekt der Oberfläche
- eine Verdünnung des Gefahrstoffes ermöglicht.
Experimentelle Studien haben gezeigt, dass beim chemischen Kontaminationen mit ätzenden und reizenden Stoffen die Spülung mit einer aktiven Spüllösung effizienter ist. [2]
[1] Moody, R. P.; Maibach, H. I.; Skin decontamination: Importance of the Wash-in effect, Food and Chem. Toxicol. 44 (2006) 1783-1788
[2] Andrews K, Mowlavi A, Milner S The treatment of alkaline burns of the skin by neutralization. Plastic Reconstr Surg 2003 ; 111 : 1918-1921
Für weitere Informationen über die geeignete Behandlung für jeden Gefahrstoff: